Sabine Herlitschka: „Es können goldene Zeiten für Europa werden.“
Die bisherigen Regeln gelten nicht mehr, sagt RJ Smits – wie erleben Sie die sich derzeit so disruptiv und rasant verändernde wirtschaftspolitische Weltordnung aus Ihrer persönlichen Perspektive?
Es ist heute für alle herausfordernd, wenn langbewährte Ordnungen plötzlich keine Gültigkeit mehr haben, wenn Unsicherheiten alltäglich werden. Das fordert die Gesellschaft und Wirtschaft, alte Denkmuster zu hinterfragen. Jetzt, in einer Phase des Umbruchs, kann Europa durch mutige Reformen und entschlossenes Handeln eine neue, vielleicht „goldene“ Zeit einläuten. Die Herausforderungen sind groß, die Chancen sind es ebenso. Auch Österreich muss mutiger werden, schneller entscheiden und konkrete Maßnahmen setzen – etwa bei der Energieversorgung, der Digitalisierung und der Innovationsförderung. Ja, Widerstände sind dabei ein Zeichen, dass man tatsächlich Neues wagt. Konkrete Ansätze liefert das internationale IMD-Ranking der Wettbewerbsfähigkeit. Es zeigt, in welchen Bereichen in Österreich Handlungsbedarf besteht, es gilt die zehn verlorenen Plätze der letzten Jahre mehr als wettzumachen. Das muss ein Ansporn für eine erfolgreiche Standortpolitik sein, mit konkreten Maßnahmen Rahmenbedingungen zu schaffen, mit denen es gelingt Stärken zu stärken und damit Innovation, Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit zu steigern.
Was bedeutet das für die Standorte Europa / Österreich / Südösterreich?
Entschlossen investieren und Innovationen fördern: So kann Europa und damit auch einzelne Regionen ihre Positionen nicht nur behaupten, sondern gestärkt aus der Transformation hervorgehen. Die Steiermark ist ein Vorzeigebeispiel – mit einer F&E-Quote von über 5 Prozent ist sie nicht nur österreichischer Spitzenreiter, sondern zählt auch zu den Top-Regionen Europas – trotz Herausforderungen wie Standortfaktoren oder Fachkräftemangel. Das „Innovation to Impact“-Prinzip – also die gezielte Umsetzung von Forschungsergebnissen in marktfähige Produkte – ist entscheidend. Infineon ist seit rund 25 Jahren mit aktuell mehr als 600 MitarbeiterInnen ein wichtiger Player im steirischen Tech- und Innovationsökosystem. „Made in Styria“ sind vor allem weltweit genutzte Sicherheitstechnologien von Infineon Graz, die wir täglich im Pass, der e-card und Bezahlkarten nutzen, um nur ein Beispiel zu nennen. Oder auch jüngst, die Eröffnung unseres neuen Labors für die Funktechnologie Ultra-Weitband (UWB) in Graz. Mit diesem Labor bringen wir zusammen mit Silicon Austria Labs, unseren Teams und Kunden Forschung in die Anwendung und schaffen echten Mehrwert gerade in Anwendungen wie einem sicheren, schlüssellosen Fahrzeugzugang über Kindersicherheit im Auto bis hin zu präziser Indoor-Lokalisierung für Logistik und Industrie 4.0. Das alles zeigt, Innovation ist kein Zufall.
Was sind aus Ihrer Sicht die drei wichtigsten Strategien / Maßnahmen / Transitionen in einer zukunftsweisenden Standortpolitik?
Allen voran ist Europa für uns der wichtige große Rahmen – aufgrund der geopolitischen Entwicklungen müssen wir mehr denn je europäisch agieren: Senkung der Energie- und Arbeitskosten oder eine klare Ausrichtung von einem Green Deals zu einem Clean Industrial Deal, der auf die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit im Zuge der Dekarbonisierung abzielt. Zweitens, eine kluge, innovationsbeschleunigende Regulatorik: Es geht nicht um mehr Gesetze, sondern um die richtigen Anreize, die neue Märkte schaffen und Innovationen vorantreiben. Gerade grüne Märkte bieten enormes Potenzial für Wachstum und nachhaltige Entwicklung. Die innovationsorientierte öffentliche Beschaffung kann in dem Zusammenhang ganz maßgeblich als Motor für neue Ideen wirken, besonders für KMU und Startups. Drittens, moderne Infrastrukturprojekte wie die Koralmbahn verbinden Regionen, beschleunigen wirtschaftliche Entwicklung und öffnen den Zugang zu internationalen Märkten. Das sind strategische Weichenstellungen, mit denen Europa und damit Österreich gestärkt aus dem Wandel hervorgehen und diesen positiv gestalten kann.
Welche Branchen spielen eine Schlüsselrolle für die Positionierung der Steiermark? Wo können und sollten wir eine bereits vorhandene Stärke / Exzellenz weiter ausbauen?
Die Steiermark ist besonders stark in der Industrie – vor allem in Bereichen wie Mikroelektronik, Automotive, Life Sciences und Kreislaufwirtschaft. Was dabei hervorsticht: Es sind die Innovationsökosysteme, die weit über regionale Grenzen hinaus wirken. Ich stimme Robert-Jan Smits absolut zu: Durch die gezielte Förderung dieser Exzellenzfelder und Cluster, kann Europa seine Innovationskraft bündeln und international Schlagkraft entwickeln. Finanzielle Unterstützung, Vernetzungsplattformen und gemeinsame Strategien stärken Europa in zukunftsorientierten Sektoren wie KI oder grüne Produktion. Der Süden Österreich hat sich mit seinen spezialisierten Innovations-Ökosystemen europaweit einen Namen gemacht: Silicon Austria Labs, der Silicon Alps Cluster aber auch Initiativen wie der ACstyria Mobilitätscluster, Human.technology Styria, der Green Tech Cluster oder der Materials Cluster Styria zeigen, wie wirksam solche Netzwerke funktionieren. Auch hier gilt dasselbe Prinzip, vorhandene Stärken weiter zu stärken.
Was können / sollten Unternehmen (KMU) selbst tun, um sich in Zeiten des Umbruchs stabil aufzustellen?
Unternehmen tun schon seit langem sehr viel, um sich in dynamischen Zeiten stabil aufzustellen. Deshalb gibt es in Österreich eine Reihe von globalen Marktführern, Infineon ist einer davon. Darüber hinaus investieren Unternehmen seit langem massiv in Bildung und Innovation auf der einen, in Strukturreformen und Effizienzprogrammen auf der anderen Seite. Diese Anstrengungen schaffen den Spielraum, um agil auf Veränderungen zu reagieren. Entscheidend ist die Innovationskraft weiter auszubauen, Kooperationen zu suchen und neue Geschäftsmodelle zu entwickeln – etwa durch die Zusammenarbeit mit Start-ups. Ebenso wichtig bleibt die Qualifizierung der MitarbeiterInnen. Viele Unternehmen zeigen jetzt vor, wie sie anstatt zu Jammern aktiv die Zukunft gestalten, mutige, auch unbequeme Entscheidungen treffen, um Arbeitsplätze und damit regionale Verankerung und Wohlstand langfristig zu sichern.
Veränderung bedeutet Weiterentwicklung, also auch Bewusstseinserweiterung und Altes, Überholtes zurückzulassen. An welcher Sicht- oder Vorgehensweise halten wir vielleicht noch hartnäckig fest, das loszulassen hilfreich wäre?
Europa ist mehr als ein „Fleckerlteppich“ nationaler Interessen – es ist ein Wirtschaftsraum mit über 500 Millionen Menschen, größer als die USA. Wenn wir den Mut haben, alte Sichtweisen loszulassen und europäische Einheit zu leben, entsteht ein Markt mit enormer Kraft. Der Letta-Report zeigt: Bildung, Forschung und Innovation sollten als „fünfte Freiheit“ im Binnenmarkt verankert werden. Der Draghi-Report fordert: Weniger Abhängigkeit, mehr strategische Autonomie. Beide machen klar – jetzt ist der Moment, Europa neu zu denken. Denn die Chancen sind da: Ein starker Binnen- und Kapitalmarkt, ein hochwertiger Wirtschaftsraum, in dem Unternehmen, KMUs und Startups groß werden können – wenn wir Bürokratie abbauen und den europäischen Hebel vor allem global nutzen.
Sigrid Gaisch-Faustmann