Philipp Blom: „Der Mensch ist fähig zu radikalem Wandel. Das macht ihn zu einer spannenden Spezies.“

Der deutsche Historiker, Autor und Journalist Philipp Blom ist zu Gast am Zukunftstag 2023. Mit uns sprach der in Wien lebende Hamburger vorab über Irrtümer der klassischen Wirtschaftstheorie, die Kraft der Vision und die Frage, ob der Mensch bessere Entscheidungen treffen wird als der Hefepilz.
F&E
Philipp Blom
Philipp Blom
geboren: 1970 in Hamburg, ist Schriftsteller, Historiker und Journalist.
lebt in: Wien
schrieb u.a. für: The Guardian, Financial Times, Die Zeit, FAZ, SZ

Herr Blom, wir freuen uns, dass Sie heute mit uns ins Gespräch kommen. Was gab den Anlass für Sie, sich intensiv mit den Umbrüchen in unserer Zeit auseinanderzusetzen?

Der Anlass war schlicht Zeitgenossenschaft. Vor zehn Jahren habe ich angefangen, mich wissenschaftlich in die Thematik einzulesen – und ich war bestürzt über meine eigene Ignoranz: Dieses seit Langem vorhandene und offensichtliche Wissen hatte sich in meinem Leben noch gar nicht niedergeschlagen! Dabei sind es frei zugängliche Informationen, für jedermann verständlich und ganz nah an unseren Fingerspitzen.

Was findet denn eigentlich gerade statt? Angenommen, Sie müssten es einem Kind erklären.

Einem Kind würde ich erklären, dass wir über Jahrzehnte der Erde viel mehr genommen haben als gegeben. Das beginnt jetzt zu fehlen und wird, wenn wir so weitermachen, irgendwann dazu führen, dass wir Menschen selbst nicht mehr gut leben können. Wir schwimmen alle im selben Schwimmbad, würde ich erklären: Wenn einer spritzt oder etwas hineinschüttet, kriegen das alle anderen auch mit. Das ist ja nicht schwer zu begreifen. Trotzdem verhalten wir uns so, als begriffen wir es nicht.

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Inwiefern verhalten wir uns so?

Nehmen Sie als Beispiel die klassische Wirtschaftstheorie. Wenn Sie einen Produktionsbetrieb gründen, bedenken Sie aus Ihrer Sicht relevante Faktoren: Woher kommen die Rohstoffe und über welche Transportwege, welche Produktionsprozesse und Maschinen setzen Sie ein, wie sehen Marketing und Logistik aus? Aber wie viele Gedanken machen wir uns über den Erhalt der Biodiversität am Standort, die Reinheit der Atemluft oder einwandfreies Wasser? Diese Dinge sind lediglich Externalitäten für Wirtschaftswissenschafter, und das belegt deutlich unsere Illusion: Wir handeln, als ob es den Faktor Natur nicht gäbe. Als sei die Natur einfach da, und wir könnten machen, was wir wollten, sie bliebe unverändert. Ein fataler Irrtum.

Wo sind wir denn in die Irre abgebogen?

In unserer Weigerung, anzuerkennen, dass wir ein Teil von hochkomplexen Systemen sind, in denen alles mit allem verbunden ist. Was ein Einzelner tut, wirkt auf alle zurück, denn wir befinden uns miteinander im Kreislauf. Unser Leben ist in Wahrheit eine delikate Aufhängung, wie ein Mobile über einem Kinderbett. Wenn Sie an einem Faden ziehen, dann verändern Sie die Konstellationen aller anderen. Stellen Sie sich das hundertmillionenfach größer und komplexer vor, dann bekommen Sie eine Ahnung von der Wirkungsweise der Natur. Unsere Gesellschaft gibt sich derzeit der Illusion hin, es gäbe es da keine Fäden, und wenn, spannten sich diese nur zwischen irgendwelchen Tieren und Pflanzen, aber nicht hin zu uns – als würden wir in erhabenen Sphären schweben.

"Es braucht einen globalen Willen zur Transition. Wir müssen erkennen, dass es nicht „wurscht“ ist. Es ist nämlich nicht wurscht!"
Philipp Blom

Warum fällt uns Menschen die Kurskorrektur so schwer?

Es handelt sich nicht um Unvermögen, sondern um Unwillen. Man braucht kein Expertenwissen, um die Zusammenhänge nachzuvollziehen. Natürlich ist es beispielsweise ein Problem, wenn wir das CO2, das Organismen über Jahrmillionen im Boden eingelagert haben, in Jahrzehnten wieder in die Atmosphäre blasen.

Manch eine/r argumentiert, Klimawandel hätte es schon immer gegeben.

Eine Studie der NASA hat den CO2-Gehalt in der Atmosphäre über die letzten 800.000 Jahre analysiert. Da gibt es im 100.000-Jahr-Rhythmus durchaus Schwankungen. Aber seit 1960 ist der CO2-Gehalt auf ein noch nie dagewesenes Level explodiert. Das korreliert mit dem steigenden Erdölverbrauch, Fleisch- und Warenkonsum, der wachsenden Weltbevölkerung, der Produktion von Plastik usw. Diese Entwicklung markiert einen massiven Einschnitt in die Klimageschichte der Erde, den es zuvor noch niemals gegeben hat.

Bedeutet diese Veränderung denn Zerstörung?

Ich weiß nicht, ob wir die Macht haben, etwas zu zerstören. Aber wir verändern die Welt derzeit so massiv, dass wir selbst mit diesen Veränderungen nicht gut werden leben können. Wir Menschen sind eine Tierart in der Natur, wenn auch eine besonders interessante. Momentan sabotieren wir unsere Lebensgrundlage, was nicht sehr menschlich ist, sondern etwas, das viele anderen Spezies auch getan haben. Mein Lieblingsbeispiel ist die Hefe: Werfen Sie die in eine Zuckerlösung, dann frisst sie dort alles auf, was sie finden kann, explodiert mengenmäßig und kollabiert schlussendlich. Ich fände es cool, wenn wir Menschen nach Hunderttausenden Jahren Evolution etwas weiter wären als der Hefepilz.

Unsere Wissenschaft weiß mit Sicherheit mehr als der Hefepilz?

Die Wissenschaft weiß ganz eindeutig, was auf uns zukommt. Die heutigen extremen Wetterereignisse wie Überschwemmungen, Dürren oder Waldbrände wurden vor 50 Jahren unmissverständlich prophezeit. Und siehe da, sie sind genauso passiert. Und jetzt sagt die Wissenschaft erneut Dinge für die kommenden Jahrzehnte voraus und wir interessieren uns nicht einmal richtig dafür? Das ist doch Wahnsinn. Und dabei ist es dieselbe Wissenschaft, die wir so schätzen, weil sie uns Handys gibt, Autos, Medikamente und Teleskope! Wir erleben ihre Funktionalität also tagtäglich im Alltag. Wäre es da nicht klug, auch andere Aussagen dieser Wissenschaft so ernst zu nehmen, dass wir handeln?

Words don’t teach, sagt man im Englischen.

Selbstverständlich lernen wir nicht durch kluge Argumente, sondern erst dann, wenn unser bisheriges Handeln nicht mehr funktioniert. Dann sind wir ratlos, wie gerade eben: In den letzten Jahrzehnten wurden alle Probleme der Welt mit ökonomischem Wachstum gelöst. Diese Strategie versagt jetzt, denn ein Wirtschaftsraum, der um 3 Prozent wächst, verdoppelt sich in 24 Jahren. In 100 Jahren beträgt er das Zehnfache – und damit explodieren der Rohstoffverbrauch, der Schadstoffausstoß, die Abfallprodukte etc. Logisch, dass das nicht ohne Konsequenzen bleibt. Wachstum an sich kann keine Antwort mehr sein auf das aktuelle Krisengeschehen. Wir müssen unsere bisherige Patentlösung loslassen – auch wenn das manche Menschen, gerade in Machtpositionen, nicht hören wollen.

Trauen Sie uns einen Paradigmenwechsel zu?

Ja, wenn wir offen sind für den Gedanken, dass unser Leben völlig anders wird. Wenn wir in der Geschichte zurückblicken, gab es immer schon Zeiten des Umbruchs, in denen sich die Gesellschaft tiefgreifend gewandelt hat. Im Zuge der Aufklärung etwa begann der Mensch, die Welt und sich selbst unter diametral entgegengesetzte Vorzeichen zu stellen, sich ganz neu zu begreifen. Solche Momente des Kulturwandels gibt es – und wir SIND Kultur. Dass wir zu solchen Dingen fähig sind, macht uns ja zu so einer spannenden Tierart auf dem Planeten. Der Paradigmenwechsel wird also kommen, zumal das alte Modell in Kürze gar nicht mehr anwendbar sein wird. Derzeit leben wir noch in dieser seltsam ruhigen Phase, quasi den „Ferien der Geschichte“, stehen aber bereits an der Schwelle einer mit Sicherheit viel bewegteren Zeit.

Können wir dem Umbruch etwas Positives abgewinnen?

Selbstverständlich. Wir können uns bewusstmachen, dass wir sicherlich nicht die glücklichstmögliche aller Gesellschaften sind. Wir haben mehr Geld als je zuvor, aber wir schlucken auch mehr Antidepressiva als je zuvor. Ab einem gewissen Grundwohlstand – 30.000 bis 40.000 Euro pro Haushalt jährlich – wird unser Zufriedenheitsgefühl mit steigendem Wohlstand nicht mehr größer. Wir werden also nicht glücklicher, wenn wir immer mehr haben, wir bekommen nur andere Probleme. Bevor Sie mich jetzt für einen wilden Kommunisten halten: Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass Menschen durch harte Arbeit gut verdienen und wohlhabend werden, das finde ich wunderbar. Aber wollen wir unseren Status weiter über Geld definieren oder fällt uns etwas Interessanteres ein? Wir leben als Spezies mit einer Lebenserfahrung von Hunderttausenden Jahren in den Knochen heute in einer Welt, die uns eigentlich fremd geworden ist. Die Evolution hat uns darauf nicht vorbereitet, sonst hätten wir nicht so viele Unverträglichkeiten, Allergien, chronischen Krankheiten und Depressionen.

Wie kommen wir von der Depression zur Vision?

Wir könnten uns fragen: Was ist eine artgerechte Haltung des Homo sapiens? Was sind unsere wirklichen Grundbedürfnisse? Unter welchen Bedingungen fühlen wir uns als Gesellschaft zufrieden, glücklich, wenig aggressiv oder ängstlich? Wie wollen wir diese Bedingungen erschaffen? Stellen wir uns doch einmal die Welt vor, in der wir, unsere Kinder und Enkel 2050 leben wollen. Was wäre ein erfülltes Leben, wie würden eine gute Wirtschaft und Gesellschaft im Einklang mit der Natur funktionieren? Was soll dieses Land uns bieten, und was wollen wir einander bieten? Und was müssen wir heute, jetzt und hier tun, damit die Welt morgen so aussieht? Wie kommen wir in das Jahr 2050 unserer Vision? So richten wir unseren Blick nicht mehr darauf, worauf wir verzichten müssen und wer da alles dagegen sein könnte, sondern darauf, was möglich wird und was wir erschaffen wollen.

"Es kommt eine Zeit, in der kein Stein auf dem anderen bleibt. Wie gut wir künftig leben, liegt in unseren Händen."
Philipp Blom

Skizzieren Sie mit uns eine Vision für unser Land?

Österreich ist ein kleines, reiches Land mit einer hochgebildeten Bevölkerung und großer sozialer Kohäsion. Österreich könnte sagen: Im Jahr 2050 sind wir die technologische Leader für Nachhaltigkeit in Europa. Wir stellen JETZT unsere gesamte Wirtschaft um – proaktiv, aus eigenem Entschluss und ohne, dass uns jemand die Pistole an die Schläfe hält. Dann sind WIR in 20 Jahren an erster Stelle und haben die Technologien und Expertise, die alle anderen brauchen. Österreich könnte sagen: Wir investieren JETZT massiv in diese Transition. Wir werden zu einem Zero-Carbon-Land – nicht nur auf dem Papier, sondern ganz real, nicht durch Emissionshandel, sondern durch technologische Veränderung und Innovation. Wir nützen unsere Privilegien und Ressourcen und werden eine Ökonomie der Zukunft. Dadurch erarbeiten wir uns einen gigantischen Wettbewerbsvorteil. Mit den richtigen Zukunftstechnologien kann dieses Land prosperieren. Wenn wir das Unausweichliche aber hinauszögern oder behindern, dann werden sich andere diesen Vorsprung verschaffen.

Ein paar Worte, um unsere Risiko- und Veränderungsfreude zu stärken?

Wissen Sie, wenn man die Studien und Zusammenhänge betrachtet und sieht, was das für die Zukunft bedeuten kann, schwirrt einem schon einmal der Kopf. Aber wenn wir den Blickwinkel ändern, sehen wir, dass in unseren Gesellschaften eigentlich alle technologischen, wissenschaftlichen und intellektuellen Voraussetzungen dafür herrschen, die Herausforderung anzugehen und ins Positive zu wenden. Es muss ein globaler Wille dazu entstehen. Wir müssen erkennen, dass es nicht „wurscht“ ist. Es ist nämlich nicht wurscht! Ja, wir werden Fehler machen, und es wird mitunter ungemütlich. Aber wir werden auch über uns hinauswachsen und phantastische Dinge entwickeln.

Ihr Schlusswort?

Es kommt eine Zeit, in der kein Stein auf dem anderen bleibt. Wie gut wir künftig leben, liegt in unseren Händen.