Gerlinde Kaltenbrunner: „Begeisterung legt den Grundstein für alles Große, was wir im Leben erreichen.“

Niemand erlebt Aufstieg und Fall, Niederlage und Sieg hautnäher als Höhenbergsteiger. Gerlinde Kaltenbrunner erklärt im Interview, warum Ruhe Leben retten kann und wieso sie ebenso regelmäßig meditiert wie ausmistet.
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Gerlinde Kaltenbrunner
Gerlinde Kaltenbrunner
geboren: 1970 in Oberösterreich
bestiegene Achttausender: 14, als 1. Frau ohne Flaschensauerstoff oder Hochträger
ist heute: Speakerin, Seminarleiterin sowie Bewusstsseinscoach

Gerlinde, Sie haben schon früh im Leben Visionen entwickelt, die Außenstehende damals vielleicht als Utopie eingestuft hätten.

Im Alter von 16 Jahren habe ich in meiner Heimatgemeinde Spital am Pyhrn einen Vortrag über den K2 gesehen, der die Liebe zu diesen gewaltigen Bergen in mir geweckt und den tiefen Wunsch ausgelöst hat, die Landschaft irgendwann in der Realität zu erleben. Mehr und mehr ist dann das konkrete Vorhaben gewachsen, auf einen Achttausender aufzubrechen. Essenziell war für mich von Beginn an, den Gipfel ohne Flaschensauerstoff oder Hochträger zu erreichen.

Wie haben Sie sich zu Ihrer ersten Achttausender-Expedition auf den Vorgipfel des Broad Peak vorbereitet?

Damals war ich 23, Krankenschwester, und hatte natürlich keine Ahnung, was wirklich auf mich zukommt: Die körperliche Anstrengung in so großer Höhe ohne zusätzlichen Sauerstoff, die eisige Kälte am Berg – es gab viele Fragezeichen. Körperlich habe ich intensiv trainiert, bin beispielsweise sehr oft mit dem Rennrad um 3.15 Uhr in der Früh 40 Kilometer in die Arbeit gefahren und am Abend wieder zurück.

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Was hat Sie zu diesen Leistungen angetrieben?

Die Tibeter sagen: Unterschätze niemals die Kraft deiner Träume. Wie wahr dieses Sprichwort ist, habe ich gleich bei meiner ersten Expedition erfahren dürfen. Da war von Beginn an diese tiefe innere Begeisterung für das große Ziel, diese Leidenschaft und Hingabe. Sie gaben mir unheimlich viel Kraft und Motivation. Heute weiß ich, dass das der Grundstein für alles Große im Leben ist: Man muss brennen für das, was man tut, es wirklich lieben. Daraus entstehen der Wille und der Weg, Visionen wahr zu machen.

Wie haben Sie das erlebt, als aus Ihrer Vision Wirklichkeit wurde?

Was ich beim Höhenbergsteigen sofort gelernt habe, ist, meinen Körper sehr genau wahrzunehmen, achtsam zu sein, fokussiert und hellwach. Diese Haltung lernst du nicht in der Theorie, sondern da wirst du am Berg richtiggehend hineingeführt. Im steilen Gelände zählt jeder Schritt, denn schon ein winziger Moment der Unachtsamkeit kann einen Fehler nach sich ziehen, der dort oben ernsthafte Konsequenzen hat. Dann hat mich die Praxis Geduld gelehrt, denn wir hatten auch lange Schlechtwetterphasen, in denen sich nichts erzwingen ließ. Um sich an den geringen Sauerstoffgehalt der Atemluft zu gewöhnen, muss man immer wieder auf- und absteigen – auch das braucht geduldige Hingabe.

„Mit der Realität zu hadern, kostet nur Energie. Ich nehme an, was ist, und blicke nach vorn.“
Gerlinde Kaltenbrunner

Entstand dann der gleich der Wunsch, weitere – womöglich alle Achttausender zu besteigen?

Am Berg war ich ausschließlich auf mich konzentriert. Wieder in Sicherheit, unten im Basislager, hat mich eine ganz tiefe Freude erfasst und ich habe gewusst: Das hier ist meine Welt! Hierher möchte ich zurückkehren! Erst viele Gipfel später, nach dem Kangchendzönga im Jahr 2006 – dem dritthöchsten und sehr schwierigen Berg, auf dem wir aufgrund der eisigen Kälte auch sehr kritische Situationen bewältigen mussten – stieg in meinem Inneren der Gedanke hoch: Irgendwann möchte ich auf jedem der 14 Gipfel stehen dürfen. Ganz ohne Hochträger und Sauerstoffflasche. Da entstand dieser große Traum. An den Moment erinnere ich mich noch heute sehr klar. Ich saß auf einem Stein und schaute glückselig zurück zum Gipfel hinauf.

Wie groß war Ihr Respekt vor dieser Pionierleistung – es hatte ja vor Ihnen noch keine Frau geschafft?

Darüber habe ich, ehrlich gesagt, nie nachgedacht. Ich habe mich auch nie darum gekümmert, was andere zu meinen Vorhaben sagen, ob sie am Erfolg zweifeln. In meinem Fokus standen meine Vision und ich selbst. Ich hatte immer großes Glück mit meinen Teams, meist war ich jedoch leider die einzige Frau. Woran ich mich erinnere, ist das erste Mal, an dem sich männliche Bergsteiger aus anderen Teams auf eine Tasse Tee zu mir setzten und mich fragten, wie meine Taktik aussähe und wie ich das Wetter oder die Lawinengefahr einschätzte. Damals, im Basislager am Gasherbrum, wusste ich, jetzt bin ich voll akzeptiert in dieser Männerdomäne. An meinem persönlichen Weg hat das aber nichts geändert.

Sie haben schon angedeutet, welch schwierige Situationen es beim Höhenbergsteigen zu bewältigen gilt. Wie haben Sie diese Widerstandskraft, diese Resilienz erworben? Und was können Sie anderen Menschen für krisenhafte Situationen weitergeben?

Ich wurde sehr geprägt durch viele Erfahrungen, die durchaus nicht rosig waren, und Rückschläge – gerade aus ihnen bin ich gestärkt hervorgegangen, habe am meisten gelernt fürs tägliche Leben. Eine der wichtigsten Fähigkeiten ist, ruhig und gelassen zu bleiben in schier ausweglosen Situationen. Der Mensch neigt dazu, sich aufzuregen bzw. in Dinge hineinzusteigern, auch wenn sie oder er nichts daran ändern kann. Das kostet so unendlich viel Energie, und das ist oft der Grund, warum wir uns am Abend erschöpft und ausgelaugt fühlen. Damit sollten wir aufhören: Es ist, wie es ist, und es gilt, jede Situation voll anzunehmen, nach vorne zu blicken und das Beste draus zu machen.

Können Sie so einen Moment aus der Praxis beschreiben?

Als ich von einer Lawine verschüttet und mit meiner eigenen Vergänglichkeit konfrontiert wurde, weil ich nicht wusste, ob ich das überlebe. Oder wir saßen tagelang auf knapp 8.000 Meter fest, konnten nicht weiter hinauf und nicht zurück, da es so viel geschneit hatte. Wenn du bei eisiger Kälte Nächte sitzend im Biwakzelt verbringst, werden emotionales Hineinsteigern oder Panik lebensgefährlich, denn sie ziehen dir ganz viel Energie ab, die später fehlt. Hier ist es wichtig, ganz ruhig und gelassen zu bleiben. Es braucht Disziplin, Geduld, Willensstärke und auch ein tiefes Vertrauen in die eigene Intuition.

Wie kann man diese Resilienz auch auf niedriger Seehöhe trainieren?

2003 habe ich begonnen zu meditieren. Das heißt tief im Inneren Stille einkehren lassen, in sich hineinspüren, den eigenen Atem beobachten. Regelmäßige Meditation verändert etwas in uns. Ich wurde zentrierter, konnte meinen Fokus besser halten, vor allem gelassen bleiben und den Überblick bewahren in kritischen, scheinbar ausweglosen Situationen. Man glaubt nicht, wieviel Energie es freisetzt, wenn der Geist zur Ruhe kommt und man Gedanken und Gedankenmuster loslässt. Das ist eine regelrechte Kraftquelle, aus der ich schöpfen kann.

Gedanken loslassen ist das Eine – wie kann man andererseits den Verstand nutzen, um Visionen zu verwirklichen?

Die Fähigkeit zur Selbstreflexion ist eine ganz wichtige: das eigene Handeln ganz aufrichtig zu hinterfragen. Was mache ich hier, warum und wie; was kann ich das nächste Mal besser oder anders machen, wie flexibel bin ich? Wesentlich ist hier, nicht mit dem Vergangenen zu hadern oder sich für Fehler zu verurteilen. Das bringt überhaupt nichts und kostet wiederum immens viel Energie! Oft lassen wir uns von Glaubenssätzen einschränken – unhinterfragte Annahmen über uns selbst oder das Leben. Häufig sind wir uns ihrer nicht einmal bewusst, denn wir haben sie aus früheren Zeiten oder von anderen Menschen übernommen. Da genau hinzuschauen, zu fragen „Dient mir dieser Gedanke?“, hat mich vieles lösen lassen und ich bin mehr und mehr in meine Kraft gekommen.

"Die Fähigkeit zur Selbstreflexion ist eine ganz wichtige: das eigene Handeln aufrichtig zu hinterfragen. "
Gerlinde Kaltenbrunner

Gab es nicht einen Moment, in dem Sie aufgeben wollten?

Nein. Den gab es wirklich nie. Nicht einmal, als wir am Dhaulagiri in eine Lawine gekommen sind und mitten in der Nacht im Zelt verschüttet wurden. Ich hatte das Glück, mich ausgraben zu können, zwei meiner spanischen Kollegen haben es nicht überlebt. „Warum lebe ich und nicht die anderen?“ Diese Frage hat eine Krise in mir ausgelöst. Drei Wochen später bin ich bewusst wieder zu einer Expedition aufgebrochen. Vor Ort am Berg fehlte mir zunächst das Vertrauen, ich hatte Angst, dass der Platz des Hochlagers nicht sicher ist vor Lawinen, und ging ständig hinaus, um mich zu vergewissern, dass das Lager eh sicher steht. Das hat mich sehr erschöpft. Da wusste ich, so geht es nicht weiter. An den inneren Dialog damals erinnere ich mich noch heute: Entweder, ich höre auf, oder aber ich entscheide mich ganz bewusst dafür, wieder ins Leben zu vertrauen. Das klingt banal, aber genau darum ging es: Wieder zu vertrauen, dass es das Leben gut mit uns meint, denn ohne diese Haltung kann man nicht leben. So hat mich die Krise letztendlich noch tiefer in mich geführt.

Kam die Angst wieder?

Nein, auch weil ich ein Jahr später wieder zum Dhaulagiri aufgebrochen bin, und genau an der Stelle vom Vorjahr mich sehr bewusst daran erinnert habe. Es ist sehr wichtig, den Blick genau auf das Angstauslösende zu richten und sozusagen hindurchzugehen. Nur so verarbeitet man das Erlebnis und löst das Gefühl, ohne dass es zurückkehrt.

Was verbinden Sie mit der Natur, die ihre Kraft oft eindrucksvoll in Ihrem Leben gezeigt hat?

Wir sind Teil der Natur. Ich spüre das als sehr ehrfürchtiges und tiefes Gefühl. Wenn die Natur nicht will, kommen wir dagegen nicht an. Am Berg lernst du sie sehr genau kennen, denn sie gibt den Takt vor, wer nicht in ihrem Rhythmus geht, sondern gegen sie kämpft, kehrt vom Gipfel oft nicht lebend zurück. Auch im übergeordneten Sinn steckt die Natur den Rahmen ab, in dem wir uns bewegen können. Deshalb haben wir Menschen die Aufgabe, ihre achtsamer und respektvoller zu begegnen.

Welche Spuren haben Ihre Erfahrungen in Ihrem heutigen Leben hinterlassen?

Unter anderem die Erkenntnis, dass wir im Überfluss leben, ohne das wirklich zu schätzen. Nach meiner ersten Expedition mit 23 Jahren habe ich zuhause den Kleiderschrank aufgemacht und war fast überfordert davon, wie viel Kleidung ich habe. Die Einfachheit der Menschen in Nepal oder Pakistan, letztendlich auch ihre Armut, hat tiefe Eindrücke in mir hinterlassen und mich auf den Boden der Realität zurückgeholt. Beim Höhenbergsteigen hat man so wenig dabei und erreicht damit so Großes! Auch zuhause in der Zivilisation werfe ich immer wieder Ballast ab, reduziere mich auf das Wesentliche, dann fühle ich mich leichter und freier.

Welchen Projekten widmen Sie sich heute?

Ich breche immer noch gerne auf – heute auf 6.000 oder 7.000 Höhenmeter – und ich schlafe immer noch so gerne im Zelt! Dann veranstalte ich mit meinem Partner Seminare, die Sport bzw. Naturerfahrung mit Yoga und Bewusstseinsentwicklung verbinden. Und ich liebe es, Vorträge zu halten – unter anderem an Schulen. Gerade Kinder stellen so tolle Fragen! Ich möchte die Menschen begeistern und dazu inspirieren, ihre Fähigkeiten zu entdecken, einzusetzen und dabei auch Umwege in Kauf zu nehmen. Mit Visionen im Herzen, mit Selbstreflexion und der Fähigkeit, sich flexibel auf Situationen einzustellen, kann man Großes schaffen. Man muss nur beharrlich sein und darf nicht aufgeben! Ich brauchte vier Expeditionen und sieben Versuche, bis ich auf dem Gipfel des K2 stehen durfte.

Gerlinde, vielen Dank für dieses inspirierende Gespräch.